S. Hellemans: Das Zeitalter der Weltreligionen

Cover
Titel
Das Zeitalter der Weltreligionen. Religion in agrarischen Zivilisationen und in modernen Gesellschaften


Autor(en)
Hellemans, Staf
Reihe
Religion in der Gesellschaft 27
Erschienen
Würzburg 2010: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Department of History

Der niederländische Soziologe Staf Hellemans legt mit diesem Buch eine ebenso weit ausgreifende wie faszinierende Deutung der religiösen Entwicklung in der Vormoderne und Moderne vor. Der Ausgangspunkt der Studie ist zugleich evolutions- und differenzierungstheoretisch. Hellemans fragt danach, warum sich in fortgeschrittenen agrarischen Zivilisationen einige wenige Religionen als hegemonial durchsetzen konnten, in einem Prozess der um 500 vor Christi Geburt an Dynamik gewann, und warum zumindest vier dieser Religionen – Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus – sich auch noch lange nach dem Übergang zur Moderne behaupten und als Weltreligionen geographisch sogar jenseits ihres angestammten Verbreitungsraumes durchsetzen konnten. Der Ansatz ist differenzierungstheoretisch deshalb, da er Religion, in lockerer Anlehnung an die Systemtheorie von Niklas Luhmann, mit dem Übergang zur Moderne als ein funktional ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft analysiert. Gerade in diesem Kontext ist die Persistenz der Weltreligionen ein in evolutionärer Perspektive erklärungsbedürftiges Phänomen, da sich in anderen Teilsystemen wie Politik und Wirtschaft seit 1800 fundamentale Umbrüche vollzogen haben, die tradierte Strukturmuster völlig obsolet gemacht haben (101).

Eine Kernthese von Hellemans ist in diesem Zusammenhang das Paradigma «religiöser Modernisierung» (36–44). Dieses Konzept wendet sich gegen die vor allem in vielen Varianten der Säkularisierungstheorie vertretene These eines Gegensatzes von Religion und Moderne, der langfristig letztlich zum Verschwinden jener führen musste. Stattdessen betont diese These, dass trotz des mit dem Übergang zur Moderne verbundenen Strukturbruchs diese selbst «religiogen» ist, also religionsproduktive Tendenzen enthält (36). Allerdings sind Religionen nunmehr gewzungen, sich permanent in und mit der Moderne zu transformieren und neu zu erfinden. Hellemans akzentuiert diesen Ansatz vor der Kontrastfolie von drei anderen Paradigmen, welche die soziologische und ansatzweise auch historische Diskussion über Religion in den letzten Jahrzehnten bestimmt haben. Dabei handelt es sich um das Säkularisierungsparadigma, das den notwendigen Niedergang und Verfall der Religion überzeichnet, und den vor allem für die USA entwickelten religionsökonomischen «rational choice»-Ansatz, der die Angebotsseite und damit zugleich die Relevanz von Sekten als den flexibleren und zugleich im Blick auf das «Produkt» Transzendenz anpruchsvolleren Anbietern überbetont. Als drittes Paradigma skizziert er den Ansatz der Spritualität oder, im Anschluss an Luckmann, «Invisible Religion», der allerdings unter erheblichen Problemen bei der empirischen Unterfütterung seiner weitreichenden Thesen zur De-Institutionalisierung von Religion nach 1945 leidet.

Nach diesem Überblick über konkurrierende theoretische Konzepte verfolgt Hellemans Entstehung und Aufstieg der Weltreligionen in den durch eine segmentierte und lokalisierte Sozialstruktur gekennzeichneten agrarischen Zivilisationen. Er lehnt sich dabei an Karl Jaspers Idee der «Achsenzeit» an, refomuliert diese aber in einer evolutionstheoretischen Perspektive, der es weniger um das angeblich genialische Wirken einzelner prophetischer Gestalten zu tun ist als vielmehr um die adaptiven Vorteile einer durch «Universalismus, die Anwesenheit von Spezialistengruppen (Priester, Mönche und Gelehrte) und die grössere Autonomie gegenüber der politischen Macht» gekennzeichneten Form der Codierung von Transzendenz. Diese bringt erheblich erweiterte organisatorische Handlungsspielräume mit sich und ermöglicht damit zugleich die Integration von städtischen Eliten und der Masse der bäuerlichen Bevölkerung (54). Eine Universalisierung von Transzendenzvorstellungen und die Ausbildung einer das Individuum durchdringenden, verinnerlichten Ethik, die äusseren Handlungsformen wie Ritual und Opfer einen neuen, letztlich nachrangigen Platz zuweist, sind weitere wichtige evolutive Vorteile dieser axialen Religionen. Sodann wird verfolgt, wie manche, aber nicht alle der axialen Religionen sich durch Missionierung und Diffusion ausserhalb ihrer Herkunftszivilisationen verbreiten konnten (90).

Im dritten, der Transformation des religiösen Feldes im Übergang zur Moderne gewidmeten Teil beschreibt Hellemans einige charakteristische Veränderungen, die funktionale Differenzierung für Religion nach sich zieht. Dazu gehört die sukzessive Abstossung von funktionsfremden Aufgaben, eine Tendenz die er mit dem sperrigen aber treffenden Begriff der «Religionisierung von Religion» bezeichnet (102). Für die Anschlussfähigkeit einer funktional differenzierten Religion an andere Teilsysteme prägt Hellemans den m.E. weniger treffenden und auch nur skizzenhaft ausgeführten Begriff der «sozialen Promiskuität» (104). Dieser Begriff scheint gerade dann unscharf, wenn damit auch und gerade die religionsproduktiven Tendenzen der Moderne umrissen werden sollen (130), kommt es doch hier weniger auf häufigen systemischen Partnerwechsel an (um in der Metapher zu bleiben) als vielmehr auf das was Luhmann als «strukturelle Koppelung» bezeichnet, also den Aufbau von stabilen Leistungsabgaben an andere Systeme. Neben der im 20. Jahrhundert überaus erfolgreichen christlich-demokratischen, auf die Kraft von religiösen Werten setzenden Politik wäre hier etwa an das Erziehungssystem zu denken, das auch in nicht kirchlich gebundenen Schulen fachliche Inhalte oft unter Hinweis und Rückgriff auf ein pluralistisches, religiös bestimmtes Menschenbild vermittelt. Wichtig schiene es mir allerdings, die zentrale und bedeutende These der religionsproduktiven Kraft der Moderne durch den Hinweis darauf zu erhärten, dass Religion auch und gerade Folgeprobleme funktionaler Differenzierung bearbeiten kann. Hier wäre etwa an die ubiquitäre Rolle religiöser Symbole und Semantiken in Protestbewegungen zu denken, aber auch an die religiöse Zuwendung zu Problemen der Exklusion und den damit verbundenen Formwandel von der mildtätigen «Caritas» zur systematischen «sozialen Hilfe». Nicht zuletzt die Karriere der Befreiungstheologie bei Katholiken und Protestanten und die damit einhergehende Neukodierung der religiösen Weltkarte legt Zeugnis davon ab, in welch hohem Masse die Moderne hier neue Aufgabenbestimmungen für die Religion evoziert.

Als weitere wichtige Tendenzen der religiösen Modernisierung seit 1800 identifiziert Hellemans die nunmehr nicht segmentäre, sondern tendenziell kompetitive Pluralisierung des religiösen Feldes sowie eine Globalisierung, die zuerst «im Kielwasser der Kolonialisierung» das Christentum begünstigte, von der im 20. Jahrhundert aber auch der Islam und der Buddhismus, der sich unter westlichen Mittelschichten verbreitete (115). Zugleich findet vor allem im Christentum eine Umbildung und Aufwertung religiöser Organisationen statt, die mit einer Neubestimmung der Rollen von Laien und religiösen «Virtuosen» (Weber) einhergeht.

Der abschliessende vierte Teil widmet sich den Umbrüchen und Herausforderungen religösen Wandels in der zweiten Moderne ab den 1960er Jahren. Viele der hier beschriebenen Entwicklungstendenzen wie die zunehmende «Fragmentierung» des religiösen Feldes, die zunehmend prekäre Situation der religiösen Institutionen und die chronische Unerfülltheit der Individuen in einem Zeitalter der Individualisierung liest Hellemans als Belege dafür, dass die Religion ähnlichen Zwängen unterliegt wie andere Felder (Wissenschaft, Kunst, Politik) und damit als Beleg für seine Kernthese der religiösen Modernisierung (186). In verschiedenen Abschnitten werden die Krise der grossen christlichen Kirchen seit den 1960er Jahren und der Aufstieg von Sekten und anderen religiösen Bewegungen analysiert. Dabei gelangt Hellemans zu der These, dass die traditionelle, seit Troeltsch und Weber überlieferte Unterscheidung von Kirche und Sekte seit 1945 a «Trennschärfe» verliert, da sich innerhalb der Kirchen sektiererische Tendenzen breitmachen, während die zunehmende Akzeptanz für nonkonformes Verhalten die exklusiven Tendenzen der Sekten abschwächt (164). Diese Tendenzen und das ebenfalls für die zweite Moderne charakteristische Vordringen hochgradig individualisierter Formen der Aneignung von Transzendenz werden abschliessend am Beispiel der katholischen Kirche exemplarisch verfolgt.

Dieses Buch spannt einen grossen Bogen, und lässt den aufmerksamen Leser zugleich klüger und neugieriger zurück. Es besticht nicht nur durch die begriffliche Präzision und historische Tiefe seiner Kerngedanken, sondern auch und zumal durch die offene und im besten Sinne pluralistische Weise, in der Ideen konkurrierender Paradigmen in den Ansatz der religiösen Modernisierung integriert werden. Der gelassene Umgang mit dem Säkularisierungskonzept ist wohltuend in einer Zeit, in der manche Religionssoziologen sich in der Rolle eines Propheten gefallen, der seine eigene Perspektive vorschnell universalisiert. Gegenüber solchen auf einzelne Aspekte des religiösen Wandels fokussierten Ansätzen bietet das Konzept der religiösen Modernisierung eine weithin überzeugende integrative Perspektive. Zudem ist der Band ebenso klar wie leserfreundlich geschrieben. Der evolutionstheoretische Ansatz macht diese Studie zu einem wichtigen Beitrag nicht nur zur soziologischen, sondern auch zur historischen Diskussion über das Schicksal der Religion in der Moderne. Jeder an theoretischer Inspiration und begrifflicher Klarheit interessierte Religions- und Kirchenhistoriker wird sie mit grossem Gewinn lesen.

Zitierweise:
Benjamin Ziemann: Rezension zu: Staf Hellemans, Das Zeitalter der Weltreligionen. Religion in agrarischen Zivilisationen und in modernen Gesellschaften, Würzburg, Ergon Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 590-592.

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